Sprungziele
Pressemitteilungen
Alle Mitteilungen
Seiteninhalt
07.10.2020

Statt-Rundfahrt: Auch Gevelsberg war ein Tatort

Statt-Rundfahrt: Auch Gevelsberg war ein Tatort

Sonja Dehn erzählt die Geschichte von Joseph Schreymeyer. Die Geschichte, warum es Silschede heute noch gibt. Es war am Ende des verlorenen Weltkrieges. Vom Höhendorf ist der Blick frei auf die US-Soldaten, die auf Gevelsberg vorrücken. „Silschede war in diesen Tagen quasi ein Waffenlager für die Wehrmacht“, sagt Sonja Dehn. Überall in und zwischen den Häusern ist hochexplosive Munition gelagert - von deutschen Soldaten bewacht. Der Offizier gibt seinem Kanonier Schreymeyer den Befehl, die Amerikaner unter Beschuss zu nehmen. Der Soldat, der nicht mehr an den Endsieg glaubt, weiß, was das bedeutet: Die US-Army würde mit ihren überlegenen Geschützen zurückschlagen, die Munition in Silschede explodieren, ein Dorf nicht mehr existieren. Er weigert sich den Befehl auszuführen. Der Offizier zog seine Waffe und erschießt den Soldaten. Und doch hat Joseph Schreymeyer gesiegt. Die US-Soldaten wurden nicht beschossen. Der feige Nazi-Offizier zog es vor, sich mit Zivilkleidung zu tarnen und die Flucht zu ergreifen.


Wenn Sonja Dehn erzählt, dann wird die Geschichte des Nazionalsozialismus lebendig. Ja, Gevelsberg war im Dritten Reich nicht nur Zuschauer, die Stadt war Tatort. Das macht die 31-Jährige Schülerinnen und Schülern klar, wenn sie mit ihnen auf die „Statt-Rundfahrt“ zu den Spuren der Nazis geht. Es ist eine Veranstaltung der Stadt Gevelsberg, unterstützt vom Bundesprogramm „Demokratie leben!“, im Rahmen der traditionellen Woche für Zivilcourage, die in Corona-Zeiten in diesem Herbst nur eingeschränkt stattfinden kann.


Wir bleiben in Silschede. Dort, in den Eisenbahntunneln, wurden im Zweiten Weltkrieg Militär-Flugzeuge repariert. Zwangsarbeiter mussten hier ihr Leben riskieren. „Es war die Strecke, auf der auch die Versorgungszüge verkehrten. Wenn sie sich näherten, musste alles so schnell wie möglich von den Gleisen geräumt werden. Wer keine Kraft mehr hatte, um schnell genug zu sein, der wurde in den Tod gerissen“, erzählt Sonja Dehn. In Silschede hat es auch eine Revolte gegeben: „Es ist nicht so ganz klar, was damals der Auslöser gewesen ist. Es kann sein, dass die hungernden Gefangenen Brot gestohlen haben oder auf einen Zug aufspringen wollten.“ Dabei sind 14 Russen umgekommen. 


Wir erreichen die Gevelsberger Innenstadt, das alte Städtische Krankenhaus in der Hochstraße. „Was würdest Du denken, wenn ich sage: Ich behandele Dich nicht? Du hast rote Haare“, sagt die Begleiterin zu den Zeugnissen der dunklen Vergangenheit in Gevelsberg. Es waren nicht die roten Haare, die Ärzte und Pflegepersonal dazu brachten, Menschen mit voller Absicht sterben zu lassen. Es war die Tatsache, dass es sich bei ihnen um Zwangsarbeiter handelte. „Die meisten Gevelsberger Firmen waren während des Zweiten Weltkrieges auf die verschleppten Gefangenen angewiesen“, berichtet Sonja Dehn. Die eigenen Angestellten der heimischen Unternehmen starben an der Front.


„Die Franzosen durften ihre Uniform behalten und konnten sich eingeschränkt in Gevelsberg bewegen. Die Russen wurden eingeschlossen“, so die Statt-Führerin. Ein Kohlkopf auf eine Regentonne mit Wasser, das musste zur Ernährung reichen. Gesund blieb man so nicht. Wer als Zwangsarbeiter körperlich erschöpft ins Krankenhaus musste, der wusste, was ihn erwartet: Meist wurde er nicht behandelt, oft auch nur unter freiem Himmel notdürftig versorgt oder ganz herzlos unversorgt sterben gelassen, was auch noch beschleunigt wurde. „Das haben Menschen getan, die eigentlich einen Beruf ergriffen haben, um andere retten zu können“, sagt Sonja Dehn.


Und das ist nur die eine schreckliche Seite des Nationalsozialismus in Gevelsberg. In der nächsten Folge des Rathaus-Blogs geht es mit Sonja Dehn auf die Spurensuche nach den Juden, Sinti und Roma, die vor der Nazi-Zeit das Leben in Gevelsberg bunt gemacht haben und das mit ihrem Leben bezahlen mussten.

Übrigens: Es ist nicht bekannt, dass ein Nazi für seine Verbrechen in Gevelsberg zur Verantwortung gezogen wurde. Joseph Schreymeyer haben die Silscheder auf ihrem Friedhof begraben.